Quelle: Vortrag Oliver Kruger
Auf dem Parlamentarischen Abend der Deutschen Wildtier Stiftung 2016 hielt
einer der führenden Ornithologen Deutschlands, Prof. Dr. Oliver Krüger, einen
beeindruckenden Vortrag. Der Biologe am Lehrstuhl für Verhaltensforschung
an der Universität Bielefeld erläuterte die „Progress-Studie“, bei der die
Kollisionsraten von Greifvögeln an Windkraftanlagen erforscht wurden.
Eine Zusammenfassung von Ivo Bozic
Im Juni 2016 wurde die Studie „PROGRESS“ abgeschlossen, deren Ziel es war, mit
einer systematischen Freilandstudie innerhalb von drei Jahren in mehreren
norddeutschen Gebieten, Daten zur Kollisionsrate von Vögeln mit
Windenergieanlagen an Land zu erhalten. Es ist die erste derart umfangreiche
Erhebung, die an 46 Windkraftanlagen durchgeführt wurde. Finanziert wurde die
Studie zunächst vom Bundesumweltministerium, später vom Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie. Doch das Ergebnis wurde von der Öffentlichkeit kaum zur
Kenntnis genommen. Die Deutsche Wildtier Stiftung lud deshalb im Herbst 2016
einen Mitverfasser dieser Studie, den Bielefelder Verhaltensforscher Prof. Oliver
Krüger, als Referent zu einem Parlamentarischen Abend in die Hamburger
Landesvertretung in Berlin ein.
Fokus Greifvögel
Prof. Krüger betonte in seinem Vortrag zunächst, dass Greifvögel ein gutes Beispiel
dafür seien, was man im Naturschutz erreichen könne, denn die Bestände der
Fischadler und Seeadler seien angestiegen. Der Fischadler mache gerade einen
exponentiellen Bestandsanstieg durch, weil er entsprechend geschützt worden sei.
Und auch der Wanderfalke habe sich fantastisch entwickelt. Gänsegeier hingegen
seien in Deutschland selten geworden. Und damit leitete Prof. Krüger zu dem „neuen
Konfliktfeld“ über, also dem Widerstreit zwischen Windenergie und Artenschutz. Es
sei bekannt, dass manchmal unter Windenergieanlagen tote Greifvögel gefunden
werden, sagte Prof. Krüger: „Vogelkollisionen mit Windenergieanlagen werden auf
der einen Seite oft als großes Problem für den Naturschutz angesehen. Auf der
anderen Seite werden artenschutzrechtliche Bedenken als Planungshindernis
angesehen, das heißt, alle sind unglücklich.“ Es gebe heftige Auseinandersetzungen
um dieses Thema, die PROGRESS-Studie habe den Zweck, der Debatte zu mehr
Empirie zu verhelfen.
Prof. Krüger erläuterte ausführlich die verfahrenstechnischen Probleme einer solchen
Studie: Wie bestimmt man eigentlich die Menge kollidierter Vögel? Krüger: „Das ist
alles andere als eine triviale Frage. Die abzusuchende Fläche unter dem Rotor einer
Windenergieanlage beträgt drei bis zehn Hektar. Die Zahl der Anlagen in
Deutschland betrug zum Zeitpunkt der Progress-Studie 25.000.“ Man müsste also
eigentlich 75.000 bis 250.000 Hektar, eine Fläche fast so groß wie das Saarland,
absuchen – und das täglich, denn jeden Tag könnten ja Vögel kollidieren.
Weil dies selbstverständlich unmöglich ist, sei klar, dass es nicht ohne eine
Hochrechnung gehe: „Man muss also versuchen, aufgrund einer Stichprobe zu
schätzen, um welche Dimension es geht.“ Prof. Krüger betonte auch, dass es einige
Fehlerquellen gebe. Einerseits werde selbst bei gründlicher Suche nicht jeder
potentiell kollidierte Vogel gefunden – somit ergebe sich eine Auffindrate. Außerdem
werde ein Vogel ja auch vielleicht deshalb nicht gefunden, weil er vorher von einem
Beutegreifer wie Fuchs, Marder usw. einfach fortgeschleppt worden ist – das ergebe
eine Abtragrate. Beides galt es quantifizieren.
Komplexe Suche
Dazu hat das Forscherteam über drei Jahre hinweg in insgesamt 55 Windpark-
Saisons (das sind 12-wöchige Untersuchungskampagnen in einem Windpark,
zumeist im Frühling oder Herbst) im Rahmen einer Linientransektsuche 7.600
Kilometer abgelaufen.
Abbildung 1 Folie 4 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Damit ist diese Studie die umfangreichste Suche, die es jemals gab. Ein Transekt ist
ein Satz von Mess- bzw. Beobachtungspunkten entlang einer geraden Linie, die auf
der Suche nach Kollisionsofpern abgelaufen werden. „Für unauffällige Vögel haben
wir 10 Meter Bandbreite genommen, für auffällige Vögel 20 Meter“, erläuterte der
Biologe.
Abbildung 2 Folie 5 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Jeder tote Vogel, der im Suchkreis gefunden wurde, ist als Kollisionsopfer gewertet
worden. Bei einigen Funden war nicht hundertprozentig sicher, ob das Tier Opfer des
Rotors geworden oder anderweitig zu Tode gekommen war. Daher musste die
Anzahl der gefundenen Kollisionsopfer korrigiert werden.
Eine andere Fehlerquelle besteht darin, dass nicht jedes Kollisionsopfer gefunden
werden kann. Krüger erklärte: „Wir haben die Flächen natürlich nicht vollständig
abgesucht, das wäre überhaupt nicht leistbar gewesen, dementsprechend muss man
hochrechnen. Durch den pflanzenbewuchs am Boden können Vögel übersehen
werden und es war ein Qualitätsmerkmal von Progress, dass Experimente zur
Sucheffizienz durchgeführt wurden. Man hat Kadaver ausgelegt und hat Leute diese
Transekte laufen lassen. So konnte man dann zum ersten Mal experimentell
bestimmen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Vogel gefunden wird. Das
hat man vorher nie gemacht.“ Auch das Problem, dass Vögel verschwinden, bevor
sie gefunden werden, wurde wissenschaftlich berücksichtigt. „Wir haben auch
Experimente zur Verbleibe-Rate durchgeführt. Es wurden Kadaver ausgelegt und es
wurde jeden Tag kontrolliert, ob sie noch da sind oder nicht. So wurde zum ersten
Mal überhaupt möglich zu schätzen, wie das Verbleibe-Intervall ist.“ Aus all diesen
Faktoren wurde dann mit Computer-Algorithmen ein spezielles Modell entwickelt mit
dem Ziel einer Schätzung der Anzahl insgesamt kollidierter Vögel unter
Berücksichtigung der ermittelten Korrekturfaktoren.
Kollisionen sind selten, aber…
Als erstes Ergebnis stellte Krüger fest: „Eine Kollision ist ein seltenes Ereignis. Man
muss im Schnitt 26 bzw. 37 Kilometer unter Windenergieanlagen für einen Fund
zurücklegen. Das heißt, wir reden über ein stochastisch seltenes Ereignis. Aber:
Auch seltene Ereignisse können Konsequenzen haben.“
Es habe sich gezeigt, dass es deutliche Unterschiede zwischen den Windparks
gebe. „Einige Windparks haben mehr Kollisionsopfer produziert, als andere“, erklärte
Krüger.
Abbildung 3 Folie 9 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Die Gründe dafür konnten nicht geklärt werden.
Auffällig war, dass jene Vögel, die im Untersuchungsgebiet besonders selten
beobachtet werden, besonders häufig kollidieren, nämlich vor allem Greifvögel und
Enten. Bei den beobachteten Vögeln machen sie nur jeweils 2 Prozent aus, unter
den Kollisionsopfern jedoch 14 (Greifvögel) bzw. 16 Prozent (Enten).
Abbildung 4 Folie 10 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Krüger fasste zusammen: „Greifvögel sind relativ selten, brauchen größere Flächen,
aber sie kollidieren überproportional häufig. Das ist eindeutig.“
Abbildung 5 Folie 11 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Im Folgenden konzentrierte sich Prof. Krüger auf den Mäusebussard und den
Rotmilan. Da Kollisionen – in absoluten Zahlen betrachtet – seltene Ereignisse sind,
seien die Aussagen darüber alle mit einer großen Unsicherheit verbunden. Bei allen
Zahlen gebe es einen sogenannten Vertrauensbereich. Anhand eines
Kurvendiagramms stellte der Biologe dar, dass die relative Unsicherheit mit der
Anzahl gefundener Kollisionsopfer abnehme. „Je mehr Opfer Sie finden, desto
besser wird die Schätzung. Beim Mäusebussard sind wir ziemlich auf der sicheren
Seite, beim Rotmilan nicht.“ Deswegen gebe es sehr unterschiedliche Szenarien
bezüglich seiner Bestandsentwicklung und des Einflusses darauf durch die
Windkraftanlagen.
Alle Berechnungen zusammengenommen können die Wissenschaftler nun schätzen,
wie viele Individuen pro Windenergieanlage und Jahr kollidieren. So kann man nun
sagen: Etwa alle zweieinhalb Jahre kollidiert an einer durchschnittlichen
Windenergieanlage ein Mäusebussard und ungefähr alle acht Jahre ein Rotmilan.
Abbildung 6 Folie 13 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Auswirkungen auf die Bestandsentwicklung
Das höre sich natürlich sehr wenig an, erklärte Prof. Krüger, aber man müsse
berücksichtigen, dass zum Untersuchungszeitraum nicht eine, sondern 25.000
Windkraftanlagen in Deutschland in Betrieb waren und es womöglich eines Tages
doppelt so viele werden sollen, außerdem sei die Gesamtpopulation des Rotmilans
ohnehin sehr gering.
Berücksichtigt man die Gesamtzahl der Windindustrieparks, kann man also auch
sagen: Wenn an einem Windrad alle acht Jahre ein Rotmilan stirbt, sind es pro Jahr
an 25.000 Windrädern ganze 3.250. Bei einer Gesamtpopulation des Rotmilans in
Deutschland von nur ca. 15.000 Brutpaaren, eine gar nicht mehr so geringe Zahl.
Um eine Aussage über die Auswirkungen dieses Vogelschlags für bestimmte
Populationen treffen zu können, müsse man aber auch den Lebenslauf eines
Greifvogels berücksichtigen, betonte Krüger in seinem Vortrag. Anhand eines Matrix-
Modells erklärte er: „Ein kleines Mäusebussard-Küken hat eine gewisse
Überlebenswahrscheinlichkeit einjährig zu werden. Und dann hat es wiederum eine
gewisse Überlebenswahrscheinlichkeit zweijährig zu werden. Und irgendwann
beginnt dann ein Mäusebussard, zweijährig, Küken zu produzieren. Somit kommen
wieder neue Küken hinzu in die Berechnung. Wenn diese gefüttert werden und
überleben, kommen wieder neue in den Pool dazu.“ Mit diesem Altersklassenmodell
könne man jegliches Szenario zusätzlicher Mortalität abbilden. Etwa die zusätzliche
Mortalität durch Windenergieanlagen.
Abbildung 7 Folie 14 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Im Folgenden zeigte Prof. Krüger anhand verschiedener Kurvendiagramme, was in
den Simulationen passiert, wenn man die geschätzte Schlagrate auf eine Population
auf 30 Jahre projiziert; für den Rotmilan am Beispiel der Populationen „Brandenburg“
und „Blomberg“. Die graue Linie zeigt dabei, wie sich die Population entwickeln
sollte, ohne zusätzliche Mortalität durch Windenergieanlagen. Die schwarze Linie
zeigt den Median, also das wahrscheinlichste Szenario. Darüber und darunter sind
gestrichelte Linien, die den 95-prozentigen Vertrauensbereich darstellen, das sind
die Extremwerte, also der günstigste und ungünstigste Fall. An beiden Populationen
zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die zusätzliche Mortalität durch
Windkraftanlagen den Bestand gefährdet, sehr hoch ist. Oliver Krüger resümierte:
„Das heißt, für den Rotmilan sieht es nicht gut aus und gerade für den Rotmilan
tragen wir in Deutschland eine besondere Verantwortung. Er ist der einzige Vogel,
bei dem mehr als die Hälfte des weltweiten Brutbestandes in Deutschland brütet.“
Abbildung 8 Folie 15 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Beim Mäusebussard, bei dem das Vertrauensintervall enger, und somit die Prognose
sicherer ist, weil es mehr Funde gab, zeigte Krüger anhand der vier Populationen
„Bielefeld“, „Altenpleen“, „Rathenow“ und „Dänischer Wohld“, dass auch hier alle
Populationen durch den Einfluss der Windkraftanlagen abnehmen werden, bzw. in
Rathenow, wo der Bestand ohnehin Rückläufig ist, eine Beschleunigung der
Abnahme droht.
Abbildung 9 Folie 16 aus Vortrag von Oliver Krüger zur PROGRESS-Studie
Alarmstufe Rot für Rotmilan und Mäusebussard
Prof. Krüger betonte: „Diese Prognosen basieren wohlgemerkt auf eine
Windenergiedichte von 12 Anlagen auf 100 Quadratkilometer beim Status Quo von
- Das muss Ihnen klar sein. Wir haben uns nicht getraut zu sagen, was passiert,
wenn wir deutlich mehr Anlagen hätten.“ Stand Januar 2017 stehen bereits mehr als
27.000 Windenergieanlagen in Deutschland.
Schließlich fasste Prof. Oliver Krüger zusammen: „Der bisherige Ausbau der
Windenergienutzung führt beim Großteil der häufigen Vogelarten – wir haben das
natürlich nicht nur für Greifvögel, sondern auch für andere Vogelarten simuliert – zu
keinen Kollisionsraten, die Bestandswirksam sind. Das ist die gute Nachricht. Die
schlechte Nachricht ist: Auswirkungen auf die Bestände bei Rotmilan und
Mäusebussard sind sehr wahrscheinlich. Was wir als Wissenschaftler daraus folgern
ist, dass man Lösungsansätze oberhalb der Projektebene braucht. Dass irgendeine
kleine Kommune sich mit einem Windrad beschäftigt, ist eine schöne Sache und ein
berechtigtes Anliegen. Um das Ganze wirklich zu steuern, bräuchte es jedoch
Lösungsansätze auf höherer Ebene und ich glaube, das ist dringend geboten, wenn
wir unserer Verantwortung für diese wunderschönen Vögel gerecht werden wollen.“